
Zwei Deutschlands und ein Nachbar
Anfang 1972 wird der Reiseverkehr ohne Pass oder Visum zwischen der DDR und Polen möglich. Ein Jahr später wird mit dem Abkommen über die ideologische Zusammenarbeit der Rahmen für den kulturellen Austausch geschaffen. In den offiziellen Beziehungen ist die Kultur zwar nicht zentral, aber nun rollt auch in Ostdeutschland die »polnische Welle« an. Polnische Lyrik gibt es bereits, jetzt kommen Übersetzungen von Wisława Szymborska, Zbigniew Herbert und anderen, nur die Exilanten müssen literarisch weiter »draußen bleiben«.

»Polen war, bei allen politischen Scheußlichkeiten, eine Art Mekka. DDR-Bürger pilgerten dort ins Kino, Theater, zu Ausstellungen. […] Für den DDR-Leser war die polnische Literatur […] eine radikal andere Sicht auf die Wirklichkeit.«
Henryk Bereska, Übersetzer polnischer Literatur in der DDR
Auch polnische Unterhaltungsmusik findet ihren Weg in die DDR – ob Rock oder Schlager, auf Polnisch lautet der Sammelbegriff »Estrada«. Ein weiterer kultureller Exportschlager ist die Arbeit polnischer Restaurator*innen an bekannten deutschen Kulturdenkmalen.

Im Juni 1977 findet in Bonn das erste »Forum der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen« statt. Verschiedene Ideen wirtschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit, Probleme der Sicherheit und der »Normalisierung« werden von Menschen aus Politik, Wirtschaft und Publizistik diskutiert. Im Bereich der Kultur wird über den Aufbau des Jugendaustauschs und die Zukunft der deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen gestritten. Empfohlen wird die Gründung eines Instituts oder eines Lehrstuhls zur Verbreitung der polnischen Literatur und Gegenwartskunde.
»Dr. Dedecius ist im deutsch-polnischen Verhältnis in der Tat eine einzigartige Erscheinung […], eine der wenigen Persönlichkeiten, die über dem politischen Streit stehen und für alle Seiten in gleicher Weise akzeptabel sind.«
Vermerk zum deutsch-polnischen Forum von Eberhard Schulz, Polenexperte in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik
Eine der schillerndsten Persönlichkeiten in Hinblick auf die Rezeption polnischer Kultur in Deutschland ist Karl Dedecius. Der aus Lodz (Łódź) stammende Übersetzer gibt mit der Lektion der Stille 1959 eine Anthologie polnischer Nachkriegslyrik heraus, die ungewöhnliche Resonanz unter westdeutschen Intellektuellen findet. Seitdem profiliert sich Dedecius als Herausgeber polnischer Literatur und Kulturvermittler zwischen Deutschland und Polen.