Kultur – Fenster zum Nachbarn

Kultur verbindet, gerade auch zwischen Polen und Deutschland. Denn Bilder vom Nachbarn ändern sich meist nur in direkter Auseinandersetzung, und die Konfrontation mit künstlerischen Erzeugnissen reißt Fenster auf in unbekannte Räume. Dabei büßt die Literatur langsam ihre führende Rolle ein. In den 1990ern ist es immer noch Günter Grass, der sich für Polnisches interessiert, sein Roman Unkenrufe spielt in der polnischen Gegenwart seiner Heimatstadt Danzig. Auf Deutsch wird zunächst Andrzej Stasiuk mit seinen Texten über die Provinz bekannt, und natürlich die Nobelpreisträgerin von 1996, Wisława Szymborska, mit ihrer Lyrik.

Cover von Andrzej Stasiuks sehr persönlichem Reisebuch Dojczland. Czarne 

»Nüchtern kann man nicht aus Polen nach Deutschland kommen. Machen wir uns da nichts vor. Das ist immerhin ein Trauma. Es betrifft Spargelzuchtspezialisten und Schriftsteller gleichermaßen. Man kann nicht einfach mal locker nach Deutschland fahren. […] Nach Deutschland fahren, das ist Psychoanalyse.«

Andrzej Stasiuk: Dojczland. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl, 2008

Heute sind es Szczepan Twardoch, Autor temporeicher Geschichtsromane, Dorota Masłowska mit ihrer prallen Sprache und poetischen Freude am Kaputten – und Olga Tokarczuk, die für ihre »grenzüberschreitende erzählerische Vorstellungskraft und enzyklopädische Leidenschaft« den Nobelpreis für das Jahr 2018 erhält.

Olga Tokarczuk beim Signieren nach einer Lesung ihrer »Jakobsbücher« an einem maßgeblichen Ort der Handlung – Offenbach am Main, im November 2017. Jens Balkenborg 

»Verdienste um die Welt. 1. Die fachkundige und diskrete Zerlegung des Kommunismus. 2. Die Verbreitung der Kultur des Kaffeetrinkens und die Gründung der ersten Cafés in Wien. 3. Die Erfindung des Baseballs für die Amerikaner. 4. Die polnische Wurst.«

Olga Tokarczuk: Literarische EU-Erweiterung. Kleine Polenkunde. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Die Zeit 2004

Im Fernsehen geht es zwiespältig zu: Lange Zeit prägen platte Polenwitze die Late-Night-Shows. Aber langsam entdecken die Fernsehmacher auch Gemeinsamkeiten, indem etwa deutsch-polnische Krimiserien aufgelegt werden. Beim Spielfilm hat Polen es nicht einfach, nur wenige Streifen kommen auf Deutsch ins Kino. Doch Krzysztof Kieślowski genießt große Anerkennung, Oscar-Gewinner Paweł Pawlikowski sorgt mit »Ida« für Aufsehen und Starregisseurin Agnieszka Holland hat auch viele deutsche Fans. Polnische Regiekunst erobert die Bühnen, nicht zuletzt zehrend vom Ruhm Tadeusz Kantors: Marta Górnicka erntet tolle Kritiken, Krzysztof Warlikowski oder Krystian Lupa machen Furore. Auf der Musikbühne begeistert »Die Passagierin« das Publikum, eine Oper von Mieczysław Weinberg nach Zofia Posmyszs Auschwitz-Erinnerungen. Bildende Kunst, Fotografie, Jazz – kaum ein Genre, in dem Polinnen und Polen nicht nach Deutschland kämen. Und überhaupt: Berlin wird zu einer der Hauptstädte polnischer Kultur.

Eine dauerhaft etablierte deutsch-polnische Mordkommission wie seit 2011 im »Polizeiruf 110« mit Lenski und Raczek gibt es bislang in der Realität nicht. Aber die Fiktion hat ein reales Vorbild: Die gemeinsame deutsch-polnische Dienststelle in Świecko bei Słubice, in der bereits seit 2007 deutsche und polnische Polizist*innen zusammenarbeiten. rbb / Oliver Feist 
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