
Er kniet – darf er das?
Unmittelbar vor der Unterzeichnung des ausgehandelten Vertrags am 7. Dezember 1970 legt Willy Brandt vor dem Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943 einen Kranz nieder. Alle verstummen plötzlich, einige flüstern: »Er kniet.« Tatsächlich ist der Bundeskanzler auf die Knie gesunken und verharrt dort etwa eine halbe Minute.
Diese Bitte um Vergebung für die millionenfach begangenen deutschen Verbrechen an Juden, jüdischen und nicht-jüdischen Polen ist wohl spontan passiert – das symbolische Bild geht um die Welt und ist längst zur Ikone geworden.

Die Demutsgeste wird 1970 zwar weder im Innern noch im Ausland durchgehend positiv aufgenommen, aber die ihr zugeschriebene Bedeutung für die westdeutsch-polnische Entspannung wird im Nachhinein stets in Superlativen formuliert.
Wie empfanden Sie das Verhalten von Willy Brandt – als angemessen oder als übertrieben?
IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII Angemessen (41 %)
Im Auftrag des Spiegel wird im Dezember 1970 eine repräsentative Stichprobe von 500 Bundesbürgern befragt. 84 Prozent haben durch die Medien von Brandts Kniefall erfahren und bekamen die Frage nach der Legitimität vorgelegt. Der Spiegel spitzt auf seinem Cover zu: Durfte Brandt knien?
IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII Übertrieben (48 %)
IIIIIII keine Antwort (11 %)
Dabei kommen Bild und Geste im offiziellen polnischen Diskurs bis 1989 gar nicht vor. Die Zeitungen veröffentlichen als Randnotiz oder erst später Bildversionen, die den Bezug zum Warschauer Ghetto oder auch den Kniefall als solchen nicht erkennen lassen. Die Parteiführung will trotz Annäherung antideutsche Stimmungen erhalten. Die antisemitische Kampagne in Polen von 1968 soll in diesem Zusammenhang ebenso wenig thematisiert werden wie die gemeinsame Geschichte von Juden und Polen und die Erinnerung an die Shoah.
Der Warschauer Vertrag wird von der kommunistischen Führung als außenpolitischer Triumph verbreitet. Doch das kann von der wirtschaftlichen Lage nicht ablenken. Eine Woche später führt eine drastische Preiserhöhung zu einem Aufstand, zunächst in den Werften von Danzig, bald in weiteren Städten. Die Partei, welche die Arbeiter im Namen führt, verhandelt nicht mit ihnen, sondern eskaliert die Lage. Es gibt Straßenschlachten und Angriffe auf Parteibehörden, das Militär geht brutal gegen die Bevölkerung vor. Zwischen 45 und 90 Menschen werden getötet, mehr als tausend verletzt, hunderte verhaftet.

»Der du Unrecht getan hast dem einfachen Menschen,
Teil der Inschrift auf dem 1980 in Danzig errichteten Denkmal für die gefallenen Werftarbeiter von 1970, aus dem Gedicht »Der du Unrecht getan« von Czesław Miłosz
Und darüber noch lauthals lachst, […]
Sei nicht so sicher. Der Dichter erinnert sich.
Du kannst ihn töten – ein neuer folgt ihm.«
Gomułka wird auf Verlangen der Sowjets und des Politbüros durch Edward Gierek abgelöst, der sich um Dialog bemüht. Er stellt soziale Gerechtigkeit und materielle Verbesserungen in Aussicht, so dass eine Befriedung gelingt und die meisten Streiks am 22. Dezember 1970 enden.